Weltwoche: Entzauberung meiner Schweiz

Bericht aus der Weltwoche vom 1. April 2021, von Thomas Borer (PDF)

Seit meiner Kindheit und in meiner Zeit als Botschafter war ich stolz auf unser Land. Dann kam die Corona-Krise.

Anfangs war erfreulich, wie die Bevölkerung solidarisch mitzog, als der Bundesrat einen ersten Shutdown verhängt hatte. Angesichts der vielen Unbekannten und Unvorhersehbarkeiten musste sich die Landesregierung auf den schlimmstmöglichen Fall vorbereiten. Die wirtschaftlichen Rettungspakete wurden schnell und unbürokratisch geschnürt. Das Gesundheitspersonal hat die Folgen der Pandemie in einem grossen Kraftakt bewältigt und unser Gesundheitssystem vor dem Kollaps bewahrt.

Doch kurz nach Krisenbeginn und bis heute anhaltend folgten Ernüchterungen und Enttäuschungen. Der Bundesrat hat das Virus anfangs gleichzeitig über- und unterschätzt. Die nach und nach gewonnenen Erkenntnisse wurden aber kaum in die Strategie einbezogen und sind folglich auch in den Massnahmen kaum erkennbar. Ein Shutdown und Rettungspakete waren im März 2020 das richtige Mittel. Aber wenn wir bei der dritten und vierten Welle noch immer keine bessere Lösung haben, muss man von Versagen im Krisenmanagement sprechen.

Eine Krise erfordert zentrale Führung, zentrale Organisation und Vorgaben mit einheitlichen Prozessen und Regelungen. Da muss der Föderalismus zurücktreten. Der Bundesrat nützt aber den im Normalfall berechtigten Hang zur Subsidiarität geschickt aus: Überall, wo man auch noch versagen könnte, gibt man die Leitung an die Kantone ab und multipliziert das Chaos mal 26. Föderalismus als Ausrede und aus Angst, selber zu versagen.

Ungenutzte Ressourcen

Die Schweiz rühmt sich in Sachen Innovation, zur Weltspitze zu gehören. Wir haben Spitzenforschung und Spitzenunternehmen. Aber unsere Regierung bringt es während Monaten nicht fertig, eine funktionierende und allseits akzeptierte Covid-App einzusetzen. Wir rühmen uns der Digitalisierung, doch das Gesundheitssystem kommuniziert per Telefax.

Wir haben Tausende von Menschen, die in hochtechnologisierten Call-Centern jahrein, jahraus Grossunternehmen wie Swisscom oder die Banken betreuen. Aber viele unserer Kantonsregierungen meinen, sie müssten das Contact-Tracing neu erfinden und mit freigestellten Kantonspolizisten und Arbeitslosen, ausgerüstet mit Bleistift und Gummi, bewältigen.

Wir sind ein Land der Statistiken und Meinungsumfragen. Aber die Zahlenreihen des Bundesamts für Gesundheit und ihre Unlogik lassen sogar mathematisch wenig begabten Zeitgenossen wie mir die Haare zu Berge stehen. Je nach Bedarf interpretiert der Bundesrat die – falschen – Zahlenreihen in die eine oder andere Richtung. Eigentlich tappen wir seit Beginn der Krise weitgehend im Dunkeln. Die Regierung unterlässt es, das Volk regelmässig repräsentativ testen zu lassen – – ähnlich wie man repräsentative Volksbefragungen durchführt.

Der Bundesrat betont die vielen Ungewissheiten und Unvorhersehbarkeiten. Doch damit ist jeder Kleinunternehmer konfrontiert. Management ist Führung unter Unsicherheit. Anderseits fühlt sich der Bundesrat so allwissend, dass er meint, er könne mit detaillierten Vorschriften unser aller Leben rational lenken. Es fehlt der Mut zu einfachen, generell-abstrakten Regeln. Statt unter Einhaltung der Hygiene- und Abstandsvorschriften die Geschäfte zu öffnen, wird versucht, den Einzelfall zu regeln.

Wir rühmen uns der freien Marktwirtschaft. Aber die sozialen, gesellschaftlichen, gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der permanenten Schliessungen werden von der Regierung völlig ungenügend gewichtet. Vielmehr greift der Bundesrat hoheitlich und willkürlich in den Wirtschaftskreislauf ein, ohne die langfristigen Folgen zu bedenken. Grossverteiler und Onlinehändler werden zu Lasten des Kleingewerbes gefördert; durch die Verordnung des Home-Office wird die Auslagerung ins Ausland attraktiver. Ganze Wirtschaftszweige werden hoheitlich abgewürgt, dafür wird der Staatskapitalismus schleichend eingeführt. Wenn man gewisse Politiker reden hört, fragt man sich, wofür man arbeitet und Steuern zahlt, wenn der Staat sowieso nach Belieben Schulden machen oder Geld drucken kann. Krisenbewältigung darf nicht einseitig zu Lasten der folgenden Generationen geschehen.

Wir sind stolz auf unsere direkte Demokratie. Normalerweise wird dem Stimmbürger zugetraut, über hochkomplexe Vorlagen zu Energie-, Umwelt- oder Steuerfragen abzustimmen. Nur bei Covid-19 gibt die Regierung Experten und Professoren den Vorrang, die mit (pseudo)medizinischem und mathematisch-naturwissenschaftlichem Sachwissen die demokratischen Spielregeln unterlaufen dürfen. Der Stimmbürger wird als «leichtfertig», schon fast als «unmündig» qualifiziert.

Wir wollen souverän und unabhängig sein, aber der Bundesrat verweist zur Begründung der Einschränkungen immer auf die Nachbarländer. Wenn Deutschland oder Frankreich unsinnige Politik machen – müssen wir uns dann zwangsweise anpassen und ähnlich unvernünftige Massnahmen ergreifen? Wieso orientieren wir uns nicht an Florida, das ohne grosse Einschränkungen ungefähr die gleichen Krankheits- und Todeszahlen hat wie das klimatisch ähnlich gelegene Kalifornien, das seit einem Jahr im strikten Lockdown verharrt? Was mich besonders nervt: Gerade in der Krise könnte die Schweiz international eine Vorbildrolle einnehmen und Ansehen gewinnen. Aber wir passen uns dem Mainstream an.

Das wohl Beschämendste ist, dass wir das Land mit der grössten Dichte von weltweit führenden Pharmaunternehmen sind. Gleichzeitig befinden wir uns bezüglich Durchimpfung der Bevölkerung auf dem Niveau eines armen Entwicklungslandes. Die Zulassung von Massentests dauert Monate länger als in der EU oder in den USA: Wie kann das sein? Ist das schlicht Unfähigkeit?

Die Gründe des Versagens

  1. Die Schwierigkeit des Bundesrates, mit Krisen umzugehen, ist notorisch und systemimmanent. Keine Feuerwehr der Welt rennt mit sieben gleichberechtigten Kommandanten zum Brand und diskutiert öffentlich während Stunden und Monaten, was zu machen wäre. Das tut nur der Schweizer Bundesrat. Auch in der Krise erfolgen Entscheide nach langem Hin und Her im Mehrheitsvotum. Und wer gehört in den Krisenstab des Bundesrates? Die besten Krisenmanager des Landes? Nein, Staatsangestellte, die bürokratisch formell zuständig sind – völlig unabhängig davon, ob sie «Krise können». Ganz offensichtlich können es die Verantwortlichen im Bundesamt für Gesundheit nicht. Sie haben schon bei der Prävention versagt.
  2. Weder einzelne Bundesräte noch die Gesamtregierung müssen tatsächliche politische Konsequenzen fürchten. Das Parlament ist weitgehend zahnlos. Die Parteien unterstützen jeweils «ihren» Bundesrat bedingungslos. Eine Abwahl droht nicht. Das Volk hat bezüglich der Wahl des Bundesrates nichts zu sagen. Allfällige kritische Medien werden durch andere Medien und Hunderte von PR-Beratern auf Steuerkosten im Griff gehalten. Staatsangestellte müssen trotz offensichtlichem Missmanagement den Stuhl nicht räumen. All diese Personen sind letztlich weder von der Krise noch von ihren (Fehl-)Entscheiden betroffen. Nicht mal ihr Lohn oder ihre Pension sind gefährdet.
  3. In der Krise zeigt sich, wie schmerzlich sich die seit Jahren voranschreitende Entfremdung von Wirtschaft und Politik auswirkt. Beide Seiten sind dafür verantwortlich. Die Manager foutieren sich um Bern; sie sind globalisiert und delegieren an Lobbyisten. Viele Politiker befürworten das Primat der Politik; die Wirtschaft soll sich fügen. In allen Parteien, gerade auch in den bürgerlichen, dominieren Etatisten und Berufspolitiker. Die Corona-Krise veranschaulicht, dass Bundesräte, Regierungsräte und Staatsangestellte – mit wenigen löblichen Ausnahmen – keine Ahnung davon haben, was die Wirtschaft, die Technologie, die Unternehmen leisten oder welchen Grad der Einschränkungen sie verkraften können.
  4. Wir haben die Armee seit Jahrzehnten verkommen lassen. Bis vor zwanzig Jahren war sie die leistungsfähige Basis fürs Krisenmanagement. An ihrer Spitze standen auch Milizoffiziere mit hohen Funktionen in der Wirtschaft und oft in der Politik. Sie verstanden beide Seiten. Die Armee war gut ausgerüstet und gut trainiert. Krisen wurden in Gesamtverteidigungsübungen regelmässig geübt. Man war eingespielt. Heute ist die Armee ein schwacher Fremdkörper. Die Politik weiss nicht einmal genau, was die Armee kann und was nicht. Wie soll sie von heute auf morgen in China Masken effizient beschaffen oder die so heikle Impflogistik organisieren?
  5. Eine grosse Stärke der Schweiz war immer der Vorrang der Selbstverantwortung vor dem allmächtigen, unser Leben bestimmenden Staat. Aber in den letzten Jahren haben wir uns an das schleichende Gift des fürsorgenden, umsorgenden Staats gewöhnt. Er sagt uns meist mittels teurer Kampagnen, was wir essen sollen, wie wir unsere Kinder aufziehen sollen, wie wir mit der Umwelt umzugehen haben, welche sexuellen Praktiken gut sind und so weiter. Viele von uns wundern sich nicht mehr, wenn der Bundesrat schulmeisterlich rät: Wascht die Hände, bleibt zu Hause, reist nicht. Selbstverantwortung und gesunder Menschenverstand bleiben auf der Strecke.
  6. In den Genen des Schweizers steckte immer ein unbedingter Freiheitswille, eine Widerborstigkeit gegen staatliche Anordnungen. Diese wurden nicht nur hinterfragt, sondern – wenn unsinnig – schlichtweg missachtet. Man zeigte den Oberen mit der Heugabel, wer das Sagen hat. In dieser Krise ist es für mich beängstigend, zu erkennen, wie leicht wir uns unter der Führung des Bundesrates und mit Unterstützung eines Grossteils der Politiker und der Medien einschüchtern und gefügig machen lassen. Wer anderer Ansicht ist, wird als Verschwörer ausgegrenzt, wer Massnahmen des Bundesrates kritisiert, ist gleich ein Corona-Leugner. Enttäuscht bin ich vor allem von unserer Jugend. Sie wird sozial und wirtschaftlich am meisten durch die Corona-Massnahmen belastet. Aber sie zeigt kaum Widerstand. Eine Petition ist das höchste der Gefühle. Dabei weiss jeder Politiker: Petitionen sind formlos und wirkungslos.

In der Corona-Krise ist für mich der Mythos Schweiz entzaubert worden. Wir sind mittlerweile ein Land wie jedes andere – nicht schlechter, aber ganz gewiss auch nicht besser.