Mortalität und Fallzahlen – Ergänzende Analyse

Zum Originaltext von Prof. Dr. med. Pietro Vernazza

Gestern hat meine Kollegin, Baharak Babouee Flury über eine interessante These zur veränderten Übertragungsrate von SARS-CoV-2 berichtet (s. Bericht). Die Quintessenz der präsentierten Arbeiten war, dass sich das Virus in den letzten Monaten verändert hat und eine höhere Ansteckungshäufigkeit die Folge sei. Nicht ganz schlüssig ist die zitierte Arbeit bezüglich der Auswirkungen der beobachteten Mutation bezüglich dem Schweregrad der Erkrankungen.

Feedback aus Genf
Heute hat mich ein langjähriger Infektiologie-Kollege, Bernard Hirschel, aus Genf kontaktiert und eine interessante eigene Analyse mitgeteilt, die ich unseren Lesern nicht vorenthalten möchte.
Er hat von verschiedenen Ländern die Covid Erkrankungs- und Mortalitätszahlen analysiert  (Quelle: ECDC). Dabei hat er zwei verschiedene Episoden untersucht. Eine erste während der ersten Welle März 2020 und eine zweite Ende September / Anfang Oktober (s. Abb. links und rechts).  Die Fallzahlen hat er pro 100’000, die Mortalitätsdaten pro Million Einwohner angepasst.
Werden nun diese Daten pro Land in einer x/y-Grafik aufgetragen (s. Abbildung), zeigt sich – nicht ganz überraschend – ein Zusammenhang zwischen den beiden Grössen. Die rote Linie in den beiden Grafiken (links: erste Welle, rechts: zweite Welle) zeigt den linearen  Zusammenhang der beiden Grössen (lineare Regressionsgleichung). Je mehr Fälle in einem Land auftreten, desto höher ist die Mortalität. Die Steilheit der Kurve unterscheidet sich  in den beiden Zeitperioden deutlich: Während in der ersten Welle eine steile Kurve einen deutlichen Anstieg der Mortalität bereits bei wenig erhöhten Fallzahlen zeigte, zeigt die deutlich flachere Kurve während der zweiten Periode einen ganz anderen Zusammenhang. Anders ausgedrückt: Es zeigt sich hier, dass die Mortalität zwar mit erhöhten Fallzahlen auch steigt, doch es braucht für den gleichen Anstieg von Mortalitätszahlen eine deutlich höhere Fallzahl. Anders ausgedrückt: Die Steigung der roten Linie entspricht der Sterblichkeit (Todesfälle pro Erkrankte). Diese ist in der zweiten Phase um einen Faktor 10 kleiner.

Mögliche Ursachen
Die Beobachtung der um einen Faktor von rund 10 geringeren Mortalität während den letzten September-Wochen kann viele Ursachen haben. Eine naheliegende Erklärung könnte sein, dass wir heute mit der intensiveren Testung eine deutlich geringere Dunkelziffer haben. Doch da die Dunkelziffer auf rund das Zehnfache geschätzt wurde (Beitrag), kann dies nicht die ganze Erklärung sein, denn im Alltag sehen wir heute, dass wir längst nicht alle infizierten Personen diagnostizieren.

Weitere Gründe könnten sein:

  • jüngeres Alter der infizierten Personen und damit eine geringere Mortalität. Allerdings ist die Altersstruktur in den letzten Wochen wieder ähnlich wie in der ersten Welle
  • Veränderung des Virus: Diese Hypothese wurde im letzten Bericht ausführlich diskutiert.
  • Bessere Behandlung: Auch dieser Faktor könnte die Mortalität verändern. Doch, gemessen an den massiv erhöhten Fallzahlen haben die Hospitalisationszahlen nicht gleichmässig zugenommen.

Wir werden nun die weitere Entwicklung beobachten müssen. Aber es ist durchaus möglich, dass das Virus sich tatsächlich in Richtung einer milderen Lungenerkrankung verändert haben könnte. Doch die immens hohen Ansteckungszahlen der letzten Wochen führen dennoch unser Gesundheitssystem an eine Grenze.