Weshalb jetzt Lockdown – Frau Dr. med. Kathrin Meffert-Ruf, Kinderärztin

Von Frau Dr. med. Kathrin Meffert-Ruf, Kinderärztin, Stand 19.01.2021

Gegen den Willen der Kantone verschärft der Bundesrat die Massnahmen gegen das Coronavirus. Ab 18.1.21 werden in der Schweiz die Läden geschlossen, und es gilt eine Home-Office-Pflicht.  Weshalb schickt der Bundesrat jetzt die Schweiz in einen zweiten Lockdown?

Auf welchen Grundlagen basieren diese Entscheide, wie schlimm ist die Lage wirklich?

Der Bundesrat stellt bisher ab auf Fallzahlen, Spitalauslastung, Todesfälle und Reproduktionszahl. Aktuell entscheidend ist aber die Coronavirus-Mutation.

Schauen wir uns Zahlen mal an:

1. Fallzahlen

Kommentar:  Die Fallzahlen waren Ende Oktober auf einem Höchststand (mehr als 4 mal so hoch wie jetzt) (2210 im 7-Tageschnitt) und sind seither – mit einer Stagnation anfangs Dezember – regredient. Die befürchtete Zunahme der Fälle über die Festtage ist ausgeblieben, die täglich gemeldeten Neuinfektionen dieser Woche betragen 33% weniger als in der Vorwoche.

Dass SARS-CoV-2 im nasskalten Dezember nicht einfach verschwindet, erstaunt nicht, da es sich um ein saisonalen Atemwegsvirus handelt.  Im Winter gab es immer schon gehäuft Schnupfen, Husten, Fieber.  Ist der Höhepunkt der Infektionswelle aber überschritten, sind die Zahlen wieder rückläufig.  Das ist bei jeder Grippewelle so.  Auch ohne jegliche Massnahmen.

2. Spitalauslastung

Kommentar: Die Spitalauslastung war Mitte bis Ende November auf einem Höchststand (über 4000 Hospitalisierte) und ist seither rückläufig, im Vergleich mit der Vorwoche um 17% auf aktuell 1997 Hospitalisierte. Die Auslastung der zertifizierten Intensivbetten beträgt 84%, was normal ist, die Auslastung inklusive der Ad-hoc Betten 73%.  Problem sind nicht die Anzahl Betten, sondern der Pflegepersonalmangel, welcher vorbestehend ist und politisch angegangen werden muss unabhängig von Corona. Zudem ist zu erwähnen, dass es neben den aus medizinischen Gründen hospitalisierten COVID-positiven Patienten (also zum Beispiel Patienten mit Sauerstoff-Bedarf oder gar Beatmung) auch solche gibt, die aus sozialer Indikation hospitalisiert sind (vorwiegend alleinstehende Betagte, die nur milde erkrankt sind, aber niemanden haben, der sie während der Isolation zum Beispiel mit Essen versorgt).

3. Reproduktionszahl

Die effektive Reproduktionszahl R gibt an, wie viele Personen eine infizierte Person im Durchschnitt ansteckt. Der neuste Wert gilt für den 8. Januar und steht bei 0,81. Das bedeutet, dass hundert Neuinfizierte im Schnitt 81 Personen ansteckten.
Der R-Wert welcher heute berechnet wird, bildet das Infektionsgeschehen schweizweit von vor ca. 10 Tagen ab und ca. 14 Tage für Kantone wegen der Verzögerung zwischen Ansteckung und positive Testergebnis.

In den meisten Kantonen liegt R aufgrund der bestätigten Fälle (Median) derzeit immer noch über dem von der Swiss National COVID-19 Science Task Force vorgeschlagenen Zielwert von 0,8, welcher zu einer Halbierung der Anzahl Neuinfektionen innerhalb maximal 14 Tagen führt, so die Taskforce.

Kommentar:  Die Reproduktionszahl R hinkt der Realität 10-14 Tage hinterher und ist ein sehr ungenauer Wert.  Ob R geeignet ist als Grundlage für kurzfristige Entscheidungen, ist sehr fraglich.

4. Todesfallzahlen

Kommentar:  Die Zahl der Corona-Verstorbenen war im November auf einem Maximum (bis 100 pro Tag), ist seit Mitte Dezember deutlich rückläufig, aktuell minus 22% im Vergleich mit der Vorwoche.

Bei der Beurteilung der Zahl der Corona-Toten muss berücksichtigt werden, dass nicht unterschieden wird, ob jemand mit oder an Corona verstorben ist.  Die EU-Definition eines Corona-Toten besagt, dass alle Verstorbenen, welche in den 28 Tagen vor dem Tod einen positiven Corona-Abstrich hatten, als Corona-Tote gelten.  Egal ob sie an Krebs, an einem Herzinfarkt oder wegen Abbruch der Dialyse sterben.  Somit wären es de facto viel weniger Menschen, die effektiv an Corona verstorben sind.

5. Testkurve

Kommentar: Schaut man die parallelen Kurven der durchgeführten Tests und der positiv Getesteten an, wird man den Verdacht nicht los, dass es sich – zumindest teilweise – um eine Testwelle handelt.

6. Neue Mutation des Coronavirus (VU1-202012/01)

Die zuerst in Grossbritannien und dann auch Südafrika entdeckte Variante von SARS-CoV-2  war anfangs Dezember erstmals in der Schweiz nachgewiesen worden.   Die Mutation, erstmals identifiziert im September 2020, sei potenziell um 70% ansteckender als bisher bekannte Virusvarianten (NZZ 21.12.2020).

Viele Viren mutieren ständig. SARS-CoV-2 verändert im Durchschnitt ein bis zwei DNA-Bausteine pro Monat.  VU1-202012/01 besitzt eine überdurchschnittlich hohe Zahl von genetischen Veränderungen und hat diese zudem in sehr kurzer Zeit angesammelt. Es heisst, die neue Variante könnte sich möglicherweise bis zu 70% schneller ausbreiten als bisher bekannte Coronaviren.  Darauf deuten zum einen die festgestellten Mutationen, von denen manche eine bessere Bindung an menschliche Zellen ermöglichen.  Zum anderen hat sich die neue Virusvariante seit anfangs Dezember in Südengland und London sehr schnell ausgebreitet und wurde dort zur dominierenden Variante.  Erste Daten zeigen, dass die Mutation nicht mit einer erhöhten Infektionsschwere und Sterblichkeit in infizierten Personen einhergeht (NZZ).

Sind die neuen Impfstoffe gegen die Coronavirusmutante bereits wirkungslos?  Dafür gibt es bisher keine Anhaltspunkte. Dies wird derzeit in Zellkulturstudien analysiert.  Zwar sind manche der Mutationen in genau in dem Spike-Protein, das Bestandteil der Impfung ist.  Doch das Impfprotein löst im Körper die Bildung eines Cocktails an Antikörpern aus, die an unterschiedliche Stellen des Spike-Proteins oder auch andere Virusbestandteile andocken.  Selbst wenn nun also manche Antikörper weniger gut an das mutierte Spike-Protein der neuen Virusvariante binden sollten, so bietet dieses trotzdem noch ausreichend Angriffsflächen für andere Antikörper. Zudem gibt es im Körper eine zweite Verteidigungsmannschaft, die sogenannten T-Zellen.  Diese erkennen mit SARS-CoV-2 infizierte Zellen und vernichten sie.  Diese Reaktion ist allenfalls teilweise durch ein  mutiertes Spike-Protein abgeschwächt (NZZ).

Es könnte sein, dass neue Vakzine notwendig sein werden, wenn sich das Virus noch weiter verändert, gemäss bisherigen Erkenntnissen aber nicht in den kommenden Monaten.  Influenza-Viren verändern ganze Abschnitte ihres Genoms, weshalb es jeden Herbst eine neue Impfung braucht.

Kommentar

Es wird Angst gemacht mit der Aussage, die neue Corona-Virus-Mutante könnte potenziell um 70% ansteckender sein.  Gefährlicher sei sie nicht. Mittlerweile ist das neue Virus seit mindestens 6-7 Wochen in der Schweiz nachgewiesen.  Gut 2% der aktuellen SARS-CoV-2 Fälle seien auf dieses Virus zurückzuführen.  Das ist nicht gerade viel nach mindestens 6-7 Wochen Zeit, sich auszubreiten und wiederspricht etwas der Behauptung, dass die Mutante sehr viel ansteckender sei.

Fazit

Es ist nicht nachvollziehbar, dass der Bundesrat gegen den Willen der Kantone jetzt auf eine Verschärfung der Massnahmen drängt, obwohl die Zahlen rückläufig sind und die Corona-Impfung da ist.  Die Strategie der ersten Welle war die Verhinderung des Kollaps des Gesundheitssystems.  Dies ist zum Glück weder in der ersten noch in der zweiten Welle, welche den Zenit hinter sich hat, eingetreten.  Die Zahlen der Neuinfektionen, der Hospitalisationen und der Todesfälle waren im November deutlich höher als jetzt.  Die Intensivstationen (inkl. Ad-Hoc-Betten) waren nie über 81% belegt.  Die Reproduktionszahl R hinkt der Realität 10-14 Tage hinterher, ist sehr ungenau und deshalb als Grundlage für kurzfristige Entscheidungen nicht geeignet.

Laut Bundespräsident Guy Parmelin sind es nun nicht die Fallzahlen, sondern die neuen, leichter übertragbaren Virusvarianten, die den Bundesrat umtreiben.  Eine rapide Vermehrung wie in Grossbritannien oder Irland wäre hierzulande besonders riskant, weil die gesamten Fallzahlen schon heute hoch sind und das Gesundheitssystem schnell überlastet wäre. Deshalb sei es trotz den enormen Kosten und wirtschaftlichen Schäden besser früh und hart einzugreifen als abzuwarten.

Dass Corona jetzt im nasskalten Dezember nicht einfach verschwindet, erstaunt nicht, da SARS-CoV-2 ein saisonales Atemwegsvirus ist.  Im Herbst und Winter gab es immer schon häufiger Schnupfen, Husten, Fieber und selten auch Komplikationen mit Lungenentzündungen.

«Am ehesten wird sich das pandemische SARS-Coronavirus-S bleibend in die winterlich-endemisch auftretenden respiratorischen Viren wie Influenza und RSV einreihen», so Prof. Dr. med. Phillip Tarr, Infektiologe am Kantonsspital BL (PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN 2020;20/12):377-382).

Es kann nicht sein, dass die Swiss National COVID-19 Science Task Force sich unrealistische Ziele setzt (Halbierung der Anzahl Neuinfektionen innerhalb maximal 14 Tagen, R unter 0,8), die Aufgrund der Natur des Virus nicht zu erreichen sind.  Und dass der Bundesrat krampfhaft versucht, diesen unrealistischen Zielen mit Massnahmen, die offensichtlich kaum was bewirken, auf dem Buckel der Bürger nachzurennen.  Koste es was es wolle.

Es kann nicht sein, dass die Kriterien für Veränderung der Massnahmen dauernd geändert werden.  Aufgrund der noch vor einem Monat geltenden Kriterien Fallzahlen, Hospitalisationen, IPS-Betten, R-Wert müssten nämlich jetzt Lockerungen erfolgen.  Dass nun Corona-Virus-Mutanten als Grund für Verschärfungen herangeführt werden, erstaunt, da Corona-Viren – wie auch die Influenza-Viren – ständig mutieren. Ansteckender heisst nicht automatisch gefährlicher.  In punkto Wirksamkeit der Impfung auch gegen die Corona-Virus-Mutanten hiess es ja, die Impfung wirke auch gegen die mutierten Viren. Falls dem so ist, müssen auch die Aber-Tausenden von Menschen (500’000 positiv Getestete, Dunkelziffer um ein Vielfaches höher), welche COVID-19 schon gehabt haben, keine Angst haben.  Denn die Krankheit selber hat immer eine mindestens so gute Immunität wie die Impfung zur Folge. Falls diese Virusmutante wirklich eine grundlegend neue Situation darstellt, welche eine Strategieanpassung erfordert – nämlich Abweichen vom bisherigen massvollen «Schweizer Weg» hin zum Lockdown – müsste aufgrund des Verlaufs der Neuinfektionszahlen dies ersichtlich sein, was nicht der Fall ist.  Der Verweis, dass der gute Verlauf auf die strengeren Massnahmen (Läden zu, Home-Office-Pflicht) zurückzuführen sei, kann nicht gelten gelassen werden, zeigt doch ein Blick nach Deutschland und Frankreich, dass diese Massnahmen offensichtlich keinen relevanten Effekt haben.

«Manche Politiker können sich ein Leben ohne Bevormundung der Bürger offenbar nicht mehr vorstellen.  Sie möchten den Ausnahmezustand künstlich verlängern», schreibt der NZZ-Chefredaktor Eric Gujer am 8.1.2021.  Die Grundrechte sind ausser Kraft.  Man muss sich zuerst mit tiefen Zahlen dafür qualifizieren.  Das Sagen in der Schweiz hat nicht mehr der Souverän, das Volk, sondern Politiker, die ihre Macht durch neue Gesetze (COVID-19-Gesetz) legitimieren und erhalten, auch wenn die Pandemie-Kriterien gar nicht mehr erfüllt sind. Es besteht zudem der Verdacht, dass sie sich viel zu sehr beeinflussen lassen durch das nahe Ausland.  Dessen Politiker kämen in Erklärungsnotstand, wenn sich deren Zahlen trotz hartem Lockdown zunehmend nicht mehr unterscheiden von jenen der Schweiz, wo die Schulen offen sind, die Menschen skifahren und bis vor kurzem auch noch ins Restaurant gehen konnten.

 

Dr. med. Kathrin Meffert-Ruf