Andreas Neinhaus («Finanz und Wirtschaft» veröffentlicht am 4.2.2021)
Im Kampf gegen Corona setzt das Land auf Empfehlungen statt Verbote. Die Wirtschaft steht heute besser da als anderswo.
Schweden gehörte vergangenes Jahr zu den Prügelknaben in Europa. Der Umgang des Landes mit dem Coronavirus sorgte für Kopfschütteln im Ausland bis hin zu scharfen Protesten (lesen Sie dazu «Sie begreifen es immer noch nicht»). Während alle anderen Staaten mehr oder weniger rigorose Lockdowns beschlossen, verzichtete Schweden ganz darauf. Ökonomen warnten, das Land werde einen hohen Zoll für den lockeren Umgang mit dem Virus zahlen.
Davon ist heute wenig zu spüren. Wirtschaftlich zählt Schweden in Europa zu den Spitzenreitern. Selbst der Internationale Währungsfonds (IWF) ist voll des Lobes. In seinem Länderexamen betont er, dass die Wirtschaftspolitik angemessen und rasch reagiert habe. Das Land sei besser durch die Krise gekommen als viele europäische Partner.
Die aktuellen Konjunkturzahlen unterstreichen das. Im vierten Quartal wuchs das Bruttoinlandprodukt (BIP). Es nahm gegenüber dem dritten Quartal 0,5 Prozent zu, wie die Vorabschätzung des nationalen Statistikamts kürzlich mitgeteilt hat. Die Erwartungen hatten noch höher gelegen. Der Konsens ging von 0,7 Prozent aus, einzelne Analysten wie die der Grossbank SEB rechneten gar mit 1 Prozent Wachstum.
Ein Double Dip – der Rückfall in eine Rezession – wurde vermieden und Euroland abgehängt. Dessen BIP ist im Schlussquartal um 0,7 Prozent gesunken. Das Wirtschaftsforschungsinstitut Oxford Economics resümiert, Schweden befinde sich in einer starken Position. Es stehe auch deutlich besser da, als die Zentralbank (Riksbank) bisher angenommen habe.
«Wir verwenden den Verlauf der schwedischen Wirtschaft als Frühindikator dafür, in welche Richtung sich die europäische Konjunktur entwickeln wird», erklärt Andreas Steno Larsen von der Bank Nordea in einem Webinar. Denn Schweden sei wirtschaftlich eng mit dem Ausland verflochten und dynamisch. Er schaue besonders auf den Einkaufsmanagerindex PMI.
Dieser hat sich im Januar gegenüber Dezember leicht abgeschwächt, was für die europäische Konjunktur einen Tempoverlust angesichts von Lockdowns und der harzig angelaufenen Impfkampagne signalisiert. Aber gleichzeitig schlägt sich die schwedische Industrie wacker: Der PMI beträgt 62 und liegt damit weit über der Schwelle von 50, die zwischen Wachstum und Kontraktion trennt.
Der Erfolg spiegelt sich am Aktienmarkt. Der Index OMX 30 (Stockholm) ist seit Jahresbeginn um 4 Prozent gestiegen. Er notiert inzwischen über dem Kurshoch von Ende Februar 2020, bevor der coronabedingte weltweite Crash einsetzte. Grosse Vergleichsindizes wie den Euro Stoxx oder den Dax hat er abgehängt. Morgan Stanley führt schwedische Aktien als relative Outperformer der vergangenen zwölf Monate in einem Vergleich europäischer Länder an dritter Stelle. Besser schneiden bislang nur Österreich und die Niederlande ab.
Als die Notierungen vergangenes Frühjahr einbrachen, war davon auch die Landeswährung betroffen. Die Krone wertete sich bis Ende März deutlich ab. Seither hat sie stetig an Stärke gewonnen. Inzwischen wird sie zu 9.40 Kr./Fr. gehandelt. Das entspricht einer Aufwertung von 11 Prozent gegenüber dem schwächsten Kurs von Ende März. Sie notiert aber auch um 5 Prozent fester als vor Ausbruch der Coronakrise.
Der Ausblick ist günstig. Nordea rechnet dieses Jahr mit 4 Prozent Wirtschaftswachstum. Die deutlich gestiegene Arbeitslosigkeit werde sich stetig reduzieren. Oxford Economics geht nicht mehr davon aus, dass die Regierung zusätzliche fiskalpolitische Anschub- und Unterstützungsprogramme beschliessen muss. Die Erholungskräfte seien solide genug. Auch die Riksbank, die den Zins auf 0 Prozent hält, aber im November die Anleihenkäufe ausgeweitet hat, werde am Status quo festhalten.
Hatte Schweden einfach nur Glück, dass die Coronakrise nicht schwerer ausgefallen ist, oder verfolgt es doch die bessere Strategie? Der IWF verweist auf strukturelle Vorteile, die die wirtschaftlichen Kosten der Coronakrise im Zaum hielten. So besitze Schweden nur einen vergleichsweise kleinen Beherbergungs- und Tourismussektor. Und bereits vor Corona seien Online-Arbeitsplätze weiter verbreitet gewesen als in vielen anderen Ländern. Die Anpassung sei also relativ reibungslos möglich gewesen.
Vielleicht haben die Verantwortlichen deshalb bei den Anti-Corona-Massnahmen den flexiblen Ansatz gewählt. Nach wie vor gelten die Massnahmen im Inland gegen Corona nur auf freiwilliger Basis. Der Staat empfiehlt seinen Bürgern, im öffentlichen Verkehr eine Maske anzulegen, Abstand zu wahren und von zu Hause aus zu arbeiten. Aber er schreibt es nicht vor. In der zweiten Ansteckungswelle und wegen der Mutation des Virus hat Schweden aber Verbote an der Landesgrenze verfügt. Die Einreise aus Grossbritannien und Dänemark ist für Ausländer gesperrt.
Mit 223 Infektionen auf 100 000 Einwohner liegt das Land in Europa im Mittelfeld. Der flexible Ansatz schränkt die Bewegungsfreiheit älterer Menschen aber umso stärker ein. Ausserdem hat Corona schwere Mängel im Spitalsektor offengelegt und Schwedens Selbstverständnis als führender Wohlfahrtsstaat beschädigt (Mehr dazu: «Schweden verlässt seinen Sonderweg»). Das schwedische Experiment ist noch im Gange. Aber die harsche Kritik am Umgang mit der Pandemie ist verstummt – und das aus gutem Grund.