Leserbrief Frau Dr. med Barbara Witte: Covid 19: Wie weiter – und um welchen Preis?

Leserbrief von Barbara Witte, Dr. med., Praxis für Psychosomatische Medizin, Fachärztin Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Psychosoziale und Psychosomatische Medizin SA PPM, Systemische Psychotherapie.

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Covid 19:Wie weiter – und um welchen Preis?

Es ist für mich eine Tatsache, dass Covid 19 für ältere Menschen, besonders über 80 Jahre, bzw. für erheblich Vorerkrankte gefährlich und mit einem erhöhten Sterberisiko verbunden ist. Die Zahlen unterlegen aber auch, dass Covid 19 für die meisten Menschen kein erhebliches  Gesundheits- und Sterberisiko darstellt (1). Die weitaus meisten Menschen starben 2020 an anderen Todesursachen als einer Covid 19 – Infektion.

Ich denke, wir Menschen bzw. das Gros unserer Medien und Politiker verrennen sich aktuell in «immer mehr vom Selben» und verlieren dabei jedes Mass und zunehmend den Realitätsbezug.

Wir bzw. unsere Politiker bewegen uns in einer Einbahnstrasse, die grundlegende menschliche Bedürfnisse ignoriert und die komplexe Realität zu unserem Schaden ausblendet.

Ich bedaure jeden menschlichen Todesfall, keiner ist mir «egal». Ich glaube aber nicht, dass jeder Todesfall zu verhüten gewesen wäre, denn leider (?) sind wir alle sterblich. Wir sind «nur Menschen», die auch mit den allerextremsten Massnahmen weiterhin sterblich bleiben und die unsere eigene und die uns umgebende Natur nicht vollständig kontrollieren oder gar besiegen können. Der deutsche Philosoph M. Gabriel beschreibt dies und die aktuelle «Krise der menschlichen Vernunft» sehr eindrücklich (2).

Wäre es nicht an der Zeit, wieder etwas «demütiger» zu werden, an der Zeit, uns o.g. bewusst zu machen und es zu akzeptieren? An der Zeit, aus der Allmachtsphantasie auszusteigen, «alle Todesfälle technokratisch verhindern zu können», alles sofort haben und regulieren zu können?

Wäre es nicht an der Zeit, aus einem – Corona bezogen – angstgesteuerten, vermeidenden, starren, kontroll- oder machtbesessenen Verhaltensmodus auszusteigen? Mindestens aber dessen Wirksamkeit und Folgen zu hinterfragen? Verantwortung zu übernehmen für unser Handeln?

Nicht Corona macht die Massnahmen, wir bzw. unsere Politiker beschliessen die Massnahmen! Und sie sind auch nicht alternativlos.

Wie lange wollen wir noch immer mehr Panikmache und technokratische Machbarkeitsphantasien zulassen – wenn diese wie der Lockdown, Grenz- und allenfalls noch Ausgangssperren und Schulschliessungen nun womöglich exponentiell zunehmende Schäden ohne nachweisbaren Nutzen bewirken?

Joannidis et al., Stanford University, finden keinen signifikanten Benefit durch Lockdown (3). Esfeld und Covce konstatieren: «Der Tod wird von diesem (Corona -) «Krieg» nicht ausgebremst, sondern umverteilt, mit negativem Saldo» (4).

Wollen wir um den Preis unserer zwischenmenschlichen Nähe, unserer Kultur, unserer persönlichen Selbstverantwortung und Freiheit, unseres Wohlstandes weiter ein imaginäres und unrealistisches Ziel verfolgen? («Corona zero»??)  Der Wohlstand ist Ursache für unsere verlängerte Lebenszeit und erhält unsere Gesundheitsversorgung!

Wäre es nicht an der Zeit, die Wirkungen, die Dosierung und die Nebenwirkungen des «Medikamentes» «Kontakteinschränkung» kritisch anzusehen?

Es gibt Berichte darüber, und ich beobachte auch in meiner eigenen Praxis und Umgebung eine zunehmende psychische Belastung der Menschen: Depressionen, Derealisations-, Depersonalisationserleben, Existenz-, Zukunfts-, Krankheitsängste, Ohnmachtsgefühle, Aggressivität, Resignation. Soziale Angststörungen nehmen wegen mangelnder «Übung» in Kontakten zu, bzw. treten nach erfolgreicher Bewältigung wieder auf.

Wo bleibt die Solidarität mit unseren Kindern und Jugendlichen? Was tun wir Ihnen mit den Massnahmen an?

Unsere Kinder erleben sich und andere als potentielle Ansteckungsquelle – maskiert, «gesichtslos», Mimik schlecht einschätzbar. Sie werden in für die gesunde Entwicklung notwendigen Kontakten zu anderen Kindern eingeschränkt. Sie wachsen in Atmosphären von zunehmender Angst / Gereiztheit der Eltern im Home Office auf. Sport und Jugendgruppen wurden reduziert, sie verbringen mehr Zeit mit digitalen Medien……. Die Gewalt gegen Kinder, aber auch psychische Erkrankungen von Kindern nehmen zu. Auf Chancenungleichheit und Bildung will ich gar nicht weiter eingehen.

  • Wie werden unsere Jugendlichen nach langer Pause in einen Arbeitsalltag einsteigen?
  • Wieviel Motivation, Antrieb, Kreativität werden übrigbleiben?
  • Wie viele (oder besser wenige?) Arbeitsstellen werden übrigbleiben?
  • Wir verursachen gerade psychische Krankheiten! Wollen wir das in Kauf nehmen?
  • Haben wir ausreichend stationäre psychiatrische und psychotherapeutische Kapazitäten für den steigenden Bedarf?

Die NZZ vom 02.02.2021 erwähnt eine Studie der Covid 19 Task Force des Bundes: Danach stiegen bei den Befragten Symptome einer schweren Depresssion von 3% vor der Pandemie auf 9% im April 2020 und auf 18% im November 2020. Am stärksten betroffen seien die 14 bis 24- jährigen. Empfehlung der Task Force: mehr digitale Psycho – Therapie und Sport. Wie bitte?? Müsste man da nicht auch die Massnahmen diskutieren?

Wie viele finanzielle Schulden wollen wir den jüngeren Generationen noch aufbürden?

Und noch eine Frage: Sind wir wirklich so solidarisch mit den alten Menschen? Mit Isolierung – und damit Verlust «gelebter» Monate / Jahre? Sollten sie nicht individuell selbst entscheiden? Indem wir sie alleine sterben lassen? Ist das nicht «unmenschlich? Mit elektronischer Anmeldung zur Impfung? Auch für die Angehörigen kann das «nicht begleiten oder sich nicht verabschieden können» von sterbenden Angehörigen traumatisch erlebt werden.

Überschätzen wir nicht das Risiko der Infektion mit Covid 19 für die Durchschnittsbevölkerung erheblich –unter Dauerberieselung unserer Panik machenden Medien mit unsachlichen Informationen, unter Weglassen wichtiger Relationen? Dagegen blenden wir die Folgeschäden der starren und undifferenzierten «Globalmassnahmen» einfach aus?

Könnten wir nicht diejenigen, die gefährdet sind und dies auch wollen, gezielter schützen!?

Leiden wir unter einer Coronapandemie und einer «globalen Angststörung»? Es kommt mir vor wie bei einer Angststörung des Einzelnen: «morgen ….  gehe ich wieder raus, heute geht es nicht weil…. So wird der Rückzug immer mehr, die Angst und das Vermeidungsverhalten immer grösser. Unsere Fähigkeit, etwas zu bewältigen nimmt rapide ab……

Soll das unsere Zukunft sein?

Hat sich die Menschheit je so drastisch in Vermeidungsmethoden geübt und die Freiheit wegnehmen lassen? Für wie viele Monate oder Jahre (??) wollen wir unser lebendiges Zusammenleben noch aufgeben?

Wollen wir das «verkörperte» menschliche Leben und Miteinander aufgeben und zu «Maschinen» werden, die nur noch virtuell kommunizieren und sich immer weniger spüren? Immer weiter im Home Office, im Lockdown, weil ja immer wieder eine neue Virusvariante kommen könnte und wird?  Geben wir der Dauer des Lebens die höchste Priorität, oder auch seinem Inhalt?

Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat im Frühjahr 2020 bereits die Frage gestellt, ob wir Menschen wirklich das «nackte biologische Überleben» um den Preis des (lebendigen) «Lebens» wollen? Psychosoziales Wohlbefinden und Sicherheit gehören doch auch zur Gesundheit. Deren Fehlen verursacht mittel- längerfristig körperliche und psychische Krankheiten.

Es ist zu befürchten, dass vieles, was jetzt als «neue Normalität» propagiert wird, tatsächlich zur Normalität werden könnte……

Wollen wir das?

Oder fassen wir Mut und stellen uns dem Leben – und auch unserer Sterblichkeit? Das haben wir doch jahrhundertelang gekonnt!

Es gab immer wieder neue Krankheiten, wir haben Tote beklagt…. (und beklagen sie auch jetzt, und nicht nur durch Corona…..denken wir z.B. an Krebskranke) und neue Behandlungsmethoden entwickelt, es kamen wieder neue Krankheiten, wir haben wieder……..und wir haben auch lebendig und miteinander «gelebt», und wir werden uns weiter bemühen………aber nicht mehr um jeden Preis…..(?)

Wollen wir unsere Fähigkeiten und Ressourcen zum lebendigen Miteinander, unsere Fähigkeiten, Lösungen «in der Mitte» zu finden anstelle von «Corona – Krieg» oder «Spaltung unserer Gesellschaft» nicht jetzt wieder wahrnehmen und nutzen?

Ich denke, es ist höchste Zeit, unser Handeln und seine Folgen kritisch zu hinterfragen. Höchste Zeit, aus der «Einbahnstrasse» abzubiegen!

Höchste Zeit, mit Überblick und unter multiplen Perspektiven verschiedener Menschen und Experten aus allen Fachrichtungen kreative, differenziertere Lösungen zu finden.

(Unter Anwendung einer gelebten Fehlerkultur, im Bewusstsein menschlicher Grenzen, unter Verzicht auf Diffamierung angeblich Schuldiger und anders Denkender).

Anmerkungen / Quellen:

  • Das Durchschnittsalter der Verstorbenen entspricht etwa dem durchschnittlichen Lebensalter. Letzteres ist in den letzten ca. 150 Jahren von ca. 50 Jahren auf ca. 85 Jahre angestiegen, wobei die letzten Jahre davon häufig mit erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen verbracht werden. Berechnungen von Prof. A. Gunzinger, Prof. zeigen: Wenn man die Sterbefälle der letzten 20 Jahre bezogen auf die Bevölkerungszahl anschaut, gibt es für 2020 nur in der Gruppe der über 80-jährigen eine erhebliche Übersterblichkeit. In der Gruppe der 65 – 80 -jährigen beträgt diese 4%, für alle anderen Altersgruppen gibt es keine Übersterblichkeit. («Risikogruppen schützen, Lockdown vermeiden», Tagesanzeiger, 09.01.2021, unter «Beiträge» auf «corona.differenziert.ch»)
  • Markus Gabriel: «Es gibt auch Lockdown-Fanatiker», NZZ, 28.01.2022.
  • European Journal of Clinical Investigation, 2021, Link zur Originalstudie bei Corona differenziert.ch
  • Esfeld und Philip Kovca, «Wie hälst Du es mit dem Lockdown?», NZZ 29.01.2021