Leserbrief von Alexander Stebler (offener Brief ans Schweizer Radio und Fernsehen SRF)
Dürfen Todesfallzahlen relativiert werden?
Nein, sie müssen relativiert werden!
Ihre Meldung in den Nachrichten vom 5. 3. 2021 zur Sterblichkeit im Jahr 2020 in Italien
Sehr geehrte Damen und Herren
Gestern liessen Sie in den Nachrichten verlauten, in Italien seien im Jahr 2020 so viele Menschen gestorben wie seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr.
Im Frühling 2020 waren die Intensivstationen Norditaliens überfüllt und viele sind gestorben. Das bestreite ich keinesfalls. Trotzdem muss ich dagegen protestieren, denn Sie haben ihren Zuhörern nur die halbe Wahrheit berichtet. Sie haben die dramatische Bevölkerungsentwicklung verschwiegen, welche die absoluten Todesfallzahlen stark relativiert.
Anschliessend haben Sie ergänzt, Italien habe die höchste Sterblichkeit der letzten 10 Jahre zu verzeichnen. Im fraglichen Zeitraum (2009-2019) ist allerdings die Bevölkerungsgruppe der über 80-Jährigen um sage und schreibe 62,36% angewachsen!
Und eigentlich wissen wir es ja alle: Italien hat ein miserables Gesundheitssystem, und in Italien herrscht in jedem normalen Grippewinter das pure Chaos in den Spitälern.
Was bewirken Sie mit solchen Sensationsmeldungen?
Ich denke Sie bewirken einen dramatischen Vertrauensverlust der Bevölkerung in die öffentlich-rechtlichen Medien. Denn solcherlei undifferenzierte Sensationshascherei bleibt nicht folgenlos.
Werfen Sie bitte mal einen Blick auf den YouTube Kanal von Samuel Eckert. Als evangelikaler Christ scheint der Mann auf den ersten Blick einen für die Analyse von Statistiken und Tabellen keinen geeigneten Hintergrund zu haben. Doch die undifferenzierte Berichterstattung der Medien macht es ihm möglich, ein Publikum von Hunderttausenden zu erreichen. Und obwohl ich viele seiner Ansichten nicht teile, muss ich zugeben, dass seine Analysen der Sterblichkeitszahlen verschiedener Länder und seine Interpretation dieser aus meiner Sicht absolut korrekt sind. Jedenfalls sind sie um Längen differenzierter und faktenbasierter als sämtliche Beiträge dazu, die mir von SRF je zu Gesicht oder zu Ohren gekommen sind. Daran ändert auch der „Correctiv“-Beitrag zu seiner Person nichts, denn wer diesen aufmerksam liest muss zum Schluss kommen, dass er ihn nicht substanziell zu widerlegen vermag.
https://correctiv.org/faktencheck/2021/03/02/keine-uebersterblichkeit-2020-samuel-eckerts-berechnungen-sind-laut-statistischem-bundesamt-methodisch-unzulaessig/
Wollen Sie tatsächlich das Heft aus der Hand geben? Sind Sie sich ihrer Verantwortung für den Erhalt unserer demokratischen Gesellschaft bewusst? Samuel Eckert ist nach meiner vorläufigen Einschätzung keinesfalls ein gewaltbereiter Extremist. Er scheint mir im Gegenteil ein liebenswürdiger und friedfertiger Mensch zu sein. Das muss ich anerkennen, auch wenn ich die Glaubenswelt christlicher Erweckungsbewegungen persönlich nicht nachvollziehen kann. Doch da gibt es noch viele andere, die in die von Ihnen geschaffene Bresche springen könnten.
Die Anzeichen mehren sich, dass uns in absehbarer Zeit eine nie dagewesene Wirtschaftskrise widerfahren könnte. Wie dürfte es sich dann auswirken, wenn weniger friedfertige Menschen als Herr Eckert ihre Stunde kommen sehen? Haben wir das nicht schon einmal erlebt in der Geschichte?
Schon jetzt ist die Szene der Coronaskeptiker von Schwurblern und Rechtsextremen unterwandert, die teilweise brandgefährliches Gedankengut verbreiten. Ich nenne als Beispiel QAnon oder die Identitäre Bewegung. Wie stark QAnon in den USA bereits heute verwurzelt ist, zeigte sich mit der Präsidentschaft ihres Idols Donald Trump.
Wenn wir die Demokratie auch in schweren Krisen erhalten wollen, sind wir als Gesellschaft auf glaubwürdige, unabhängige und differenziert berichtende öffentliche Medien angewiesen. In der digitalen Gesellschaft noch mehr als je zuvor. Bis vor einem Jahr betrachtete ich das Internet noch als eine Art Versicherung dafür, dass verbrecherische Ideologen wie die Nazis niemals mehr an die Macht kommen. Angesichts der Schwäche, der offensichtlichen Sensationsgier und der undifferenzierten Berichterstattung der traditionellen Medien, dem galoppierenden Diversitätsverlust sowie der um sich greifenden Tendenz, die Ansichten der jeweiligen Mehrheit der Bevölkerung zu bedienen, sehe ich da leider nichts Gutes auf unsere Gesellschaft zukommen.
Darum bitte ich Sie inständig:
Nehmen Sie das Heft wieder in die Hand!
Berichten Sie differenziert und informieren Sie breit und unabhängig.
Lassen Sie kritische Stimmen wieder zu Wort kommen.
Es ist an der Zeit, den „Krisenmodus“ zu verlassen.
Sonst werden Sie ihre Glaubwürdigkeit vollends verspielen und das Feld anderen überlassen.
Besagtes Video von Eckert: https://www.youtube.com/watch?v=WjyQm1cifh8