Philosophischer Essay zur Bedeutung des Todes im Jahre 2020 von Debbie Gilgen, Master of Arts in Philosophy, Mutter von zwei Kindern.
Was bedeutet der Tod im Jahr 2020
Diese Frage sollte in der ganzen Corona-Debatte diskutiert werden. Wir hören Ärztinnen und Ärzte sprechen, Virologen, Epidemiologen, Psychiaterinnen und Psychiater, Soziologinnen und Soziologen und viele andere Menschen der Wissenschaft. Wir bekommen tagtäglich Hunderte von Zahlen vorgesetzt, sehen Statistiken, Graphiken, hören von Todesfällen, PCR-Tests, Quarantäne und Isolation. Doch wo bleiben die Diskussionen um die wirklich fundamentalen Fragen dieser Zeit? Wo bleiben die Philosophinnen und Philosophen? Wieso sind ihre Ausführungen und Überlegungen nicht in den Medien nachzulesen? Denn wer, wenn nicht die nach Erkenntnis-strebenden Menschen, die dem Wesen der Welt auf die Schliche kommen wollen, könnten die Grundsatzdiskussionen anfachen und den Bürgerinnen und Bürgern auf unserem Planeten den Anstoss zum Weiter-denken geben?
Doch dieses Weiter-denken bedeutet, dass man zurück ins Denken kommen und sich von der Angst lösen sollte. Denn Angst ist kein guter Ratgeber. Angst lähmt den Verstand. Der erste Schritt wäre demnach, seine Mitte zu finden, nicht alle Zahlen an sich heranzulassen, zu atmen, um so Platz zu machen und sein Denken wiederzufinden. Hat man dies zurück, ist man bereit, verschiedene Aspekte anzuschauen, andere Meinungen zu akzeptieren und so einen Diskurs zu führen. Gerade der Diskurs ist ein wichtiges Mittel, um sich mit Problemen der Zeit, mit Theorien und Ansichten auseinander zu setzen. Ist dieser nicht möglich, bleibt man an Ort und Stelle stehen. Dieses Phänomen scheint sich in letzter Zeit leider ein wenig durchgesetzt zu haben. Der fehlende Diskurs und die fehlende Akzeptanz von anderen Meinungen lassen uns in der Spirale zurück. Wir gewinnen keine Einsicht und keine Lösungsvorschläge für ein besseres Jetzt.
Dieser Text wird keine Lösungsvorschläge liefern und vor allem auch keine absoluten Antworten. Vielmehr wirft er Fragen auf. Fragen, die sich jede und jeder selbst stellen kann und vielleicht auch soll. Findet jedes einzelne Individuum seine persönliche Antwort auf diese Fragen, kann der universelle Diskurs gestartet werden. Dann ist das Denken angeschaltet, die Angst in den Hintergrund gerückt und man kann beginnen, gemeinsam eine Lösung zu finden.
Die Grundfragen, die sich die Menschen seit eh und je stellten und im Jahr 2020 noch mehr ins Zentrum stellen, sind diejenigen nach dem guten Leben und der Bedeutung des Todes. Ist das Leben, das viele von uns nun führen (müssen), noch ein gutes? Oder noch weiter gefragt, ist das Leben noch menschenwürdig? Martha C. Nussbaum, Ethik-Philosophin, beschreibt in ihrem Artikel „Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit“ zehn elementare menschliche Funktionsfähigkeiten.
Fussnote: Martha C. Nussbaum, Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit, Zur Verteidigung des aristotelischen Essentialismus. In: Was ist ein gutes Leben? Philosophische Reflexionen. Herausgegeben von Holmer Steinfath. Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1998 Die zehn Funktionsfähigkeiten sind:
- Fähig zu sein, (…) zu sterben, bevor das Leben so vermindert ist, dass es nicht mehr lebenswert ist.
- Fähig zu sein zur Ortsveränderung.
- Fähig zu sein, unnötigen und unnützen Schmerz zu vermeiden und lustvolle Erlebnisse zu haben.
- Fähig zu sein, zu phantasieren, zu denken und zu schlussfolgern.
- Fähig zu sein, Bindungen zu Dingen und Personen ausserhalb unserer selbst zu unterhalten.
- Fähig zu sein, sich eine Auffassung des Guten zu bilden uns sich auf kritische Überlegungen zur Planung des eigenen Lebens einzulassen.
- Fähig zu sein, für und mit andern leben zu können.
- Fähig zu sein, in Anteilnahme für und in Beziehung zu Tieren, Pflanzen und zur Welt der Natur zu leben.
- Fähig zu sein, zu lachen, zu spielen und erholsame Tätigkeiten zu geniessen.
- Fähig zu sein, das eigene Leben und nicht das von irgend jemand anderem zu leben.
Würde eine dieser Fähigkeiten fehlen, fehlt laut Nussbaum die Menschlichkeit.
Vor allem aber seien es zwei, die für sie von entscheidender Bedeutung sind: „praktische Vernunft und soziale Bindung“. (Nussbaum, Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit, Seite 215) Betrachtet man diese zwei Punkte, ist es offensichtlich, dass die Menschlichkeit in der heutigen Zeit abhanden gekommen ist. Die praktische Vernunft wird durch die immerwährende Panikmache unterdrückt und die sozialen Bindungen aufgrund der Massnahmen unterbunden. David Hume, schottischer Aufklärungs-Philosoph, meint sogar, dass der Mensch ohne die anderen nicht existieren könnte: „Die menschliche Natur kann in keiner Weise ohne die Vereinigung der Individuen existieren“. (David Hume, Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart, 2002, Seite 127)
Kommen wir auf die zu Beginn gestellte Frage zurück: Was ist ein gutes Leben? Ohne dies nun im Detail betrachtet und ausdiskutiert zu haben, lautet die Antwort: Dieses ist es nicht. Menschen, die im Namen des Schutzes ihrer Gesundheit zu so vielen elementaren menschlichen Funktionsfähigkeiten nicht mehr fähig sind, führen kein gutes Leben. Wäre es nicht an der Zeit, zurück zu kehren? Wäre es nicht an der Zeit, alle anderen Fähigkeiten gleich zu gewichten, wie den Schutz der Gesundheit? Wäre es nicht an der Zeit, die Menschen selbst entscheiden zu lassen, ob sie vor einer Krankheit geschützt werden wollen, oder nicht? Wäre es nicht an der Zeit, der praktischen Vernunft der Menschen Vertrauen zu schenken? Ist die totale Vermeidung einer Krankheit, das extreme Festhalten am Leben sinnvoll? Ab welchem Lebensalter ist es legitim zu sterben? An welcher Krankheit dürfen wir sterben? Macht es für ein Individuum am Ende seines Lebens einen Unterschied, ob es an Krebs oder an Corona stirbt? Die Entscheidungsfreiheit als elementares menschliches Gut wird in die Ecke gestellt. Wo bleibt die Entscheidungsfreiheit der älteren Bevölkerung, das Risiko in Kauf zu nehmen, an einem Virus zu erkranken, der sie eventuell umbringen könnte, dafür aber würdig leben zu können? Welche Instanz ist dazu bemächtigt, den Menschen diese Entscheidung abzunehmen? Denn „die Bestimmung dessen, was die Gemeinschaft wollen kann oder muss, war immer die traditionelle Aufgabe von Sozialvertragstheorien. In liberaldemokratischen Versionen der Sozialvertragstheorie ist das oberste Ziel des Staates, die Freiheit seiner Bürger zu sichern.“ (Elizabeth S. Anderson, Warum eigentlich Gleichheit? in: Gleichheit oder Gerechtigkeit, Texte der neuen Egalitarismus, herausgegeben von Angelika Krebs, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2000, S. 153) Wieso wird den Menschen auch ihre letzte Freiheit genommen? Die Freiheit, zu entscheiden, wann und wie sie sterben wollen. Frei von Zwängen und Massnahmen. Ist der Tod wirklich ein Makel des Lebens? Macht der Tod nicht vielmehr die Definition des Lebens aus? Ist der Wunsch nach Unsterblichkeit so gross, dass er das Leben hemmt, indem er versucht den Tod aufzuhalten?
Darüber nachdenken und in einem weiteren Schritt darüber sprechen ist von enormer Bedeutung. Es könnte sein, dass wir dann einen Weg aus der Spirale raus und zurück in ein selbstbestimmtes, gutes Leben finden.
Debbie Gilgen, Master of Arts in Philosophy
Bemerkungen zu „Machs einfach“
„Ich denke, also bin ich.“ Dies ist wahrscheinlich das bekannteste Zitat eines Philosophen, das auch ausserhalb der Philosophie weite Verbreitung gefunden hat. „Cogito, ergo sum“, schrieb Descartes im 17. Jahrhundert.
Einer der grössten Zweifler unter den Philosophen wollte herausfinden, ob das, was da draussen in der Welt existiert, real ist. Descartes stellte sich vor, dass es eine Art Betrüger gibt, der ihn in allem irreführt, soweit es nur möglich ist. In seinen Überlegungen merkte er schnell, dass er in ganz vielen Dingen betrogen werden kann. Das Einzige, worin er nicht irregeführt werden kann, sei das Denken. „Hier werde ich fündig: das Denken (=Bewusstsein) ist es; es alleine kann von mir nicht abgetrennt werden; Ich bin, Ich existiere, das ist gewiss. Wie lange noch? Offenbar solange ich denke, denn es ist ja auch möglich, dass ich, wenn ich überhaupt nicht mehr denken würde, sogleich aufhörte zu sein.“[1] (S. 83). Descartes zieht daraus den Schluss, dass er ist, wenn er denkt. Es soll hier keine philosophische Auseinandersetzung über diese Schlussfolgerung werden, denn selbstverständlich kann Descartes’ Annahme auch angezweifelt werden. Wichtig ist vielmehr, dass das Denken ins Zentrum gestellt wird.
Lassen sie uns mit dem Denken ein wenig herumspielen. Wo sind wir im Jahre 2020 mit diesem Virus, mit all den Massnahmen und im Detail mit dem Slogan des Bundesamt für Gesundheit, BAG, „Mach’s einfach!“? Was sind wir, die einfach machen müssen? „Mach’s einfach“ impliziert doch „Denk nicht“. Sind wir also nicht mehr? Non cogito, ergo non sum? Natürlich ist dieser Gedankengang sehr auf die Spitze getrieben. Aber gibt es nicht auch viele andere Dinge in dieser Pandemie, die so absurd zugespitzt sind, dass solch eine Überlegung ihren Platz darin findet?
Das Denken wird uns im Jahre 2020 abgesprochen. Es wird für uns gedacht. Viele, die sich dennoch getrauen zu denken, und zwar im Sinne von Descartes ein „denkendes Ding“ (S. 87) zu sein, „das zweifelt, einsieht, bejaht, verneint, will, nicht will, das auch bildlich vorstellt und empfindet“ (S. 87) werden leider oft diffamiert. Das Denken als zentrale Fähigkeit des homo sapiens, des verstehenden, weisen oder vernünftigen Menschen, wird dem Menschen nun abgesprochen. Es stellt sich nicht nur philosophisch die Frage, was ich bin, wenn ich nicht mehr denken darf. Diese Frage sollte auch auch soziologisch, psychologisch und kulturell betrachtet werden.
„Mach’s einfach!“ Diese Aufforderung kann zwei verschiedene Dinge implizieren:
„Mach’s einfach“ als eine automatisierte Handlung, bei der kein Denken im eigentlichen Sinne da ist. Zum Beispiel beim Schuhe binden. Oder „mach’s einfach“, wenn für das Gegenüber zu viel Denken da ist und als Antwort nur noch die Karte der Autorität ausgespielt werden kann. Wenn beispielsweise das Kind die Lehrer fragt, wieso diese Übung zum fünften Mal gemacht werden muss. Eventuell gibt es keine schlüssige und logische Antwort auf diese Frage, dann heisst es: „Mach’s einfach.“ Also „hör auf zu denken, ich denke für dich, du musst das nicht wissen“. Bei der Kampagne vom BAG wird es sich höchstwahrscheinlich um die zweite Kategorie handeln. Denn wären diese Abläufe schon automatisiert, müsste man keine Kampagne darüber machen.
„Mach’s einfach!“ Höre auf, Fragen zu stellen? Höre auf zu zweifeln? Höre auf zu denken? Höre auf zu sein?
[1] Alle Zitate stammen aus:
René Descartes, Mediationen über die Erste Philosophie, Philipp Reclam jun. GmbH & Co, Stuttgart, 2001