Prof. Marcel Tanner: «Restaurants öffnen und Konzerte zulassen gäbe einen riesigen Benefit»

Claudia Blumer, publiziert am 16.2.21 in der BAZ

Der Epidemiologe Marcel Tanner kritisiert die pessimistische Kommunikation der Taskforce, die er verlassen hat. Tanner will keine überstürzte Lockerung – aber ein Umdenken

Herr Tanner, wochenlang haben wir gehört, wie hochansteckend die mutierten Virusvarianten seien. Bisher blieb aber ein Wiederanstieg der Fallzahlen aus. Hat man übertrieben?

Die Vorsicht war angebracht, denn man wusste zunächst wenig. Jetzt gibt es Daten. Die guten Nachrichten sind: Die Varianten sind nicht pathogener als das Original, und der Impfstoff wirkt bei uns auch gegen die Mutanten. Nun müssen wir diese guten Nachrichten kommunizieren und nicht nur Worst-Case-Szenarien aufzeigen. Denn diese schüren Angst und Panik, das sind schlechte Leitlinien. Man muss jetzt der Bevölkerung sagen: Auch wenn eine Variante sehr ansteckend ist, gelingt es uns heute, sie zu kontrollieren.

Die Science-Taskforce, aus der Sie soeben ausgetreten sind, weist vor allem auf die Risiken hin. Nutzen sich solche Warnungen bei der Bevölkerung ab?

Aber sicher nutzt sich das ab. Wer immer nur warnt und Angst schürt, kommt kaum zum Ziel. Die Taskforce hat aber auch viele wichtige Inputs gegeben, die von den Medien und von der Politik zu wenig wahrgenommen wurden. Etwa im Mai 2020 eine umfassende Strategie zum Umgang mit der Pandemie.

Was denken Sie: Werden per Anfang März erste Lockerungsschritte möglich sein?

Es braucht jetzt auf jeden Fall Perspektiven und damit einen Ausstiegsplan. Ich befürchte, wenn wir weiterhin in einer negativen Rhetorik und in diesem Schwarzweissmuster zwischen Angstmacherei und Öffnungsforderungen verharren, dann schaffen wir die Senkung der Infektionszahlen und die baldige Rückkehr in ein gewohntes Leben nicht. Es gibt viele kreative Lösungsansätze. So gab es beispielsweise Konzerte mit wenig Zuschauern und ohne Garderobe. Dann haben die Leute die Mäntel eben auf den Knien. Besser als gar kein Konzert. Soeben hat mich ein grosser Konzertveranstalter angerufen und mir sein Schutzkonzept präsentiert, er wollte meine Meinung hören. Leute wie er sollten von der Politik und den Behörden gehört werden. Man muss solche Initiativen zulassen und fördern.

Der Bundesrat will die Fehler vom letzten Sommer vermeiden. Wie schafft er das?

Nicht plötzlich öffnen, sondern früh Konzepte machen und in Varianten planen. Sonst kann man die Dynamik kaum mehr kontrollieren. Bei der Frage nach Lockerungsschritten müssen wir Risiko und Benefit abwägen. Wenn wir beispielsweise Restaurants öffnen und Konzerte zulassen, haben wir einen riesigen Benefit: Volkszufriedenheit und mentale Gesundheit. Das wird man höchstens semiquantitativ erfassen können, beispielsweise anhand der psychischen Erkrankungen und der häuslichen Gewalt. Auf der anderen Seite steigt das Infektionsrisiko. Das kann man mit gezielten Massnahmen womöglich minimieren. Deshalb sage ich: Kreativität und eine Gesamtsicht sind gefragt.

Wissenschaftler haben ihre Sicht, Politiker eine andere, die Wirtschaft wieder eine andere. Fehlt eine kohärente Politik?

All diese Silos mit ihren sogenannten Experten haben mich schon vor Ausbruch der Covid-Pandemie gestört. Bei meiner Arbeit in der Taskforce hat mich der Fokus auf die eigene Disziplin und die teilweise fehlende Bereitschaft, ganzheitlich zu denken und zu handeln, oft betrübt. Es macht mich jetzt noch traurig. Auch als Präsident der Akademien der Wissenschaften kämpfe ich gegen das Silodenken an. Das Problem ist, dass gute wissenschaftliche Leistungen oft Gruppenleistungen sind, aber diese werden zu wenig honoriert. Die Wissenschaft honoriert zu sehr die Selbstprofilierung. Das führt dazu, dass Wissenschaftler, wie das auch Politiker tun, eher in den Spiegel schauen als zum Fenster hinaus. Es ist ein schlechter Anreiz für den Nachwuchs und prägt die Gesellschaft negativ.

Sie sagten kürzlich in einem NZZ-Interview, Public Health sei mehr als der tägliche Blick auf die Infektionszahlen. Was meinten Sie damit?

Die Covid-Pandemie trifft die Bevölkerung heterogen. Je nach Alter, Gesundheitszustand, Tätigkeit oder Wohnort sind die Menschen unterschiedlich betroffen. Deshalb muss man die täglichen Infektionszahlen immer in diesen Kontext setzen und gleichzeitig die Fragen beantworten: Wer wird wo und wie angesteckt? Dann präsentiert sich ein Infektionsgeschehen gleich anders. Es zeigt sich, wo die Hotspots sind und was man gezielt unternehmen kann. So kann man auch die Folgen einer Massnahme für das soziale und wirtschaftliche Gefüge besser abschätzen. Public Health bedeutet bei dieser Pandemie, die Heterogenität einzubeziehen und flächendeckende Massnahmen möglichst zu vermeiden.

Kann man eruieren, wo der Fehler passiert ist, warum die zweite Welle so schlimm geworden ist?

Es gibt immer zahlreiche Faktoren, die zu einer Situation führen. Man hat vielleicht Grossveranstaltungen zu früh zugelassen. Anderseits hatten die Fussballclubs gute Schutzkonzepte. Sie beklagen sich heute, ebenso wie die Wirte und Ladenbesitzer, die viel Geld in Schutzkonzepte investiert haben und dann trotzdem schliessen mussten. Ich verstehe den Ärger. Man hätte vielleicht während der Zeit der Öffnung besser kontrollieren und nur die schwarzen Schafe sanktionieren müssen. Auch hätte man den Beitrag der Wirte und Ladenbesitzer an die Volksgesundheit von Anfang an verdanken und richtig kompensieren sollen, rasch und nicht so «schmürzelig». Das hätte die Bereitschaft aller zur Mitwirkung enorm verstärkt. Und von dieser Bereitschaft hängt der Erfolg einer Pandemiebekämpfung ab.

Aktuell scheint der Unmut gegen die Massnahmen zu wachsen, auch in der Schweiz demonstrieren Leute gegen die Covid-Massnahmen. Verstehen Sie das?

Ich versuche es zu verstehen. Doch es mangelt diesen Leuten an Bewusstsein für die Situation, in der wir uns befinden. Es gibt ja diesen derzeit sehr unpassenden Begriff Selbstverantwortung. Nur wer noch nie in einer wirklich schwierigen Situation war, redet in so einer Krise von Selbstverantwortung. Es müssen alle zusammenstehen, alle sitzen im selben Boot. Nach meiner Erfahrung kommt in armen Ländern bei einer Epidemie eher ein Gemeinschaftsgefühl auf. Bei uns herrscht die Meinung vor: Ich kann denken, also entscheide ich. Eine Seuche der wohlhabenden Gesellschaften.

Ist der Bundesrat gut beraten mit der Taskforce?

Ich glaube schon, sofern er das gesamte Wirken der Taskforce einbezieht, nicht alles auf ein epidemiologisches Problem reduziert und vor allem die Kollateralschäden nicht ausblendet. Wir müssen eine Public-Health-Aufgabe lösen, nicht einfach Infektionskontrolle betreiben. Auch sollten die Taskforce und wir alle konstruktiver und mehr mit Blick auf den Gesamtkontext kommunizieren. Die Übertragung der wissenschaftlichen Erkenntnisse auf die Politik und unser Leben ist auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Gilt dasselbe für das BAG?

Das BAG ist gut organisiert und mit Anne Lévy noch besser aufgestellt. Aber sie kämpft auch gegen die Fragmentierung. Schon das Organigramm sieht aus wie ein riesiges Schrebergartenfeld. So ist es schwierig, rasch, kohärent und gut zu kommunizieren und sich entsprechend in die Politik einzubringen.

Welches sind die Kollateralschäden, die ausgeblendet werden?

Stress, Long-Covid, die mentale Gesundheit, häusliche Gewalt, Bildungslücken. Und ganz konkret: wenn Diagnosen von lebensbedrohenden Krankheiten hinausgezögert und Therapien verschoben werden. Das ist in einer Epidemie und besonders in einer Pandemie ganz typisch: Bei der Ebola-Epidemie 2014 in Westafrika starben 11’000 Menschen. Doch weil wir die peripheren Gesundheitseinrichtungen zu früh abgeriegelt haben, gab es mindestens eine halbe Million zusätzlicher Todesfälle wegen Malaria, Lungenentzündungen und vieler weiterer Leiden. Mit dem Lockdown entstehen auch Schäden am sozialen und dann am wirtschaftlichen Gefüge, die möglicherweise für die Volksgesundheit noch folgenschwerer sind als die Schäden, die man mit Infektionskontrolle verhindern konnte. Das hat mich in diesem Jahr in der Taskforce am meisten müde gemacht und gestresst: diese umfassendere Sicht einzubringen.