Kinder und Jugendliche sind die grossen Verlierer der Pandemie – Frau Dr. med. Kathrin Meffert-Ruf, Kinderärztin

Von Frau Dr. med. Kathrin Meffert-Ruf, Kinderärztin (Artikel als PDF)

Kinder und Jugendliche sind die grossen Verlierer der Pandemie

Jeder Mensch hat in seinem Leben nur eine einzige Kindheit. Und jedes Kind hat verfassungsmässig ein Recht darauf, diese Kindheit frei und unbeschwert durchleben zu dürfen. Dieses Recht wird den Kindern aktuell verwehrt. Geburtstagsfeste können nicht stattfinden, Klassenlager werden abgesagt, Familienfeiern dürfen nicht durchgeführt werden, Kommunion- und Konfirmationsfeiern waren nur eingeschränkt möglich. Und nun sollen 10- bis 12-jährige Kinder auch noch eine Maske in der Schule und sogar während des Sportunterrichts tragen.

Kinder und   Jugendliche sind durch SARS-CoV-2 körperlich kaum gefährdet (Ausnahmen sind solche mit schwerer Immunschwäche), sie haben häufig wenig oder keine Symptome. Kinder sind nicht Treiber der Pandemie.[1] Corona-Ausbrüche in Schulen mit einer Häufung von Infektionen über alle Klassen und Stufen hinweg gibt es nicht. [2]

Viele haben aber mit psychischen Problemen zu kämpfen.  So verzeichnen die Schulpsychologischen Dienste im Kanton Zürich eine starke Zunahme von Neuanmeldungen mit Fragesstellungen rund um Verhaltensauffälligkeiten. Gefährdet sind vor allem jene, die schon vor der Pandemie psychisch belastet waren. Je nach Alter der Kinder stellen sich unterschiedliche Probleme.  Jugendliche klagen häufiger über Einsamkeit und negative Stimmungen bis hin zu Depression.  Der jugendliche Expansionsdrang, das Ablösen und Ausprobieren, das Risikoverhalten und die Grenzüberschreitungen haben einer stark angepassten und reglementierten Lebensweise weichen müssen.[3]

Bei kleinen Kindern kommt es vermehrt zu Ängsten und Verhaltensproblemen. Für Kinder ist es nicht so einfach, dass unsichtbare Risiko zu lesen und einzuschätzen, sagt Matthias Obrist, Präsident der SLK-SPD.  Vor allem, wenn die Eltern auch keine Sicherheit und Verlässlichkeit mehr bieten können, etwa wenn Armut oder Arbeitslosigkeit drohen.  Zudem haben kleinere Kinder wegen der Masken mehr Mühe mit der Kommunikation.  «Als Kind braucht man zuerst ein Repertoire, um Gesichter lesen zu können».  In einigen Kantonen müssen nun auch Primarschüler in der Schule Masken tragen, auch in der Pause und im Turnunterricht.  Im Kanton Zürich ab der 4. Primarklasse, im Kanton BL und weiteren Kantonen ab der 5. Klasse. Dagegen wehren sich Tausende von Eltern und auch Lehrern (Interessengemeinschaft Eltern und Schule stehen auf).  Kinder handhaben die Maske nicht korrekt, beim Znüni oder beim Mittagstisch haben sie sie sowieso nicht an, sodass der effektive Nutzen der Maskenpflicht bei Schülern sehr fraglich ist.  Leider werden keine Studien durchgeführt, welche den Nutzen von Masken in Schulen untersuchen.  Masken in Schulen sind offensichtlich der politische Preis, den man zahlt, um die Schulen offenzuhalten.  Der politische Druck aus Deutschland, wo die Schulen seit Wochen geschlossen sind, spielt dabei sicher auch eine Rolle.

Die Massentests von gesunden Kindern an Schulen sind eine weitere Massnahme, deren Sinn und Nutzen äusserst fraglich ist.  Einmal mehr müssen es die Kinder und ihre Eltern ausbaden.  Nicht alle Kantone machen dabei mit.  St. Gallen hat sich diese Woche explizit gegen eine Maskenpflicht für Primarschulen und Massentests ausgesprochen.  Es gäbe angesichts der epidemiologischen Lage keine Veranlassung, die Massnahmen für die Schulen zu verschärfen, sagt Bildungsdirektor Stefan Kölliker vor den Medien. Es sei absolut nicht angezeigt, von einem hochansteckenden neuen Virus zu sprechen und die Beteiligten der Schule – Kinder, Lehrpersonen und Eltern – übermässig zu verunsichern.[4]

Das Zürcher Kinderspital meldet eine deutliche Zunahme von Kindsmisshandlungen im Jahr 2020.[5] Insgesamt waren es 592 Fälle, das ist die höchste je vermeldete Fallzahl.  Ursache sei eine Zunahme von Risikofaktoren für Gewalt an Kindern:  Lockdown, Home-Office und vorübergehende Schulschliessungen sorgen in Familien für zusätzlichen Stress.  Die Konflikte können nicht mehr ausserhalb der eigenen vier Wände abgebaut werden.  Hinzu kommen Ängste vor Jobverlust und drohender Armut.  Dabei gibt es eine grosse Dunkelziffer hinsichtlich der Kindsmisshandlungen.  Während Lockdown und Home-Schooling bleibt vieles verborgen.

Die Stiftung Kinderschutz Schweiz meldet, dass die Zahl der Polizeieinsätze wegen häuslicher Gewalt gestiegen sei, die Frauenhäuser seien gut belegt und die Anfragen bei Beratungsstellen hätten zugenommen.  «Die Schulen müssen offenbleiben, denn die Zeit des Fernunterrichts sei gerade für die risikobehafteten Familien besonders schwer gewesen».

Gerade die schwachen Schüler haben während des Home-Schoolings häufig weniger gelernt.  Die Unterschiede zwischen starken und schwachen Schülern sind noch grösser geworden.

Die Krise hat den Jugendlichen prägende Momente ihrer Biographie gestohlen:  die Schnupperlehre, die Maturreise, die Maturfeier, der erste Städte-Trip ohne Eltern, der Sprachaufenthalt, die Chorreise – alles gestrichen.  Die Vorlesungen im Studium werden nur am Bildschirm verfolgt.  Vor allem für die Studienanfänger, speziell in einer fremden Stadt, ist es ein Ding der Unmöglichkeit geworden, neue Leute kennen zu lernen.  Das Studentenleben neben der Uni findet nicht statt.  Nicht zu sprechen von der Qualität der studentischen Ausbildung, welche massiv leidet.  Eine ganze Generation von Studenten werden noch lange darunter zu leiden haben.

«Lost» – so lautet das deutsche Jugendwort des Jahres 2020.  Eine Person, die «lost» ist, ist ahnungslos, verloren oder hat einfach keinen Plan.  Die Jugendlichen haben in der Krise viel Sicherheit und Orientierung verloren. Die Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt, der Austausch mit Gleichaltrigen, das Ausloten von Grenzen und vieles mehr, was für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit essenziell ist, wurde stark erschwert.[6]  Statt mit Freunden zu feiern oder etwas zu unternehmen, werden die Jugendlichen dazu gedrängt, zuhause zu bleiben.  Jeder Kontakt ist einer zuviel. Das Fussballtraining ist abgesagt.  Was macht dann ein Jugendlicher?  Er verbringt seine ganze Zeit am Computer oder am Handy.  Und verpasst so eine wichtige Zeit in seinem Leben.  Den Maturstreich kann man nicht in 10 Jahren nachholen.  Den Schüleraustausch auch nicht.   Die Abnabelung, ein wichtiger Bestandteil der Pubertät, wird erschwert.  Statt aufregendes Neuland erleben die Jugendlichen eintönigen Alltag.

Der Frust in der Corona-Pandemie ist bei vielen gross. Besonders Jugendliche leiden unter den Auflagen, brechen sie aber auch vermehrt. Trotz der Kontaktbeschränkung von maximal fünf Personen hat die Polizei in den vergangenen Wochen und Tagen immer wieder grosse Gruppen in der Öffentlichkeit auflösen müssen, wie es in mehreren Mitteilungen heisst. Bei den Versammlungen ist es dabei vermehrt zu Gewalt und Auseinandersetzungen gekommen.

Zuletzt hat es am vergangenen Wochenende eine gewalttätige Aktion am Bahnhof Stadelhofen in Zürich gegeben. Die Stadtpolizei und der Sicherheitsdienst der SBB mussten eingreifen. Dabei wurde ein 16-jähriger, mutmasslicher Täter festgenommen, heisst es in einer Mitteilung.  Auch die Kantonspolizei Bern hat den zunehmenden Drang nach Ausgang von Jugendlichen festgestellt.  Es sind mehrere Meldungen zu Lärm, grösseren Personenansammlungen und Streitereien eingegangen. Die Kantonspolizei Zürich hat bereits mehrere kleine illegale Partys auflösen müssen.[7]

“Verschiedene Studien haben gezeigt, dass junge Menschen die derzeitigen Einschränkungen am heftigsten erleben”, erklärt Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention der ZHAW, dem Nachrichtenportal “20min.ch”. Es sei normal, dass Jugendliche ihre Grenzen austesten und gern unterwegs sind. “All das ist jetzt reduziert, Clubs und Bars sind zu, frei feiern nicht möglich.” “Viele Kinder und Jugendliche, die wir beraten, sagen: So macht das Leben keinen Spass. Ich habe keine Freude und keine Motivation mehr”, sagt Minger. Auch innerhalb der Familien komme es oft zu Streitereien.

Die Fälle von häuslicher Gewalt nehmen zu, laut dem Sicherheitsdirektor des Kantons Zürich um über 10 Prozent.  Immer mehr Jugendliche kämpfen mit psychischen Problemen.  Depressionen und Angststörungen treten vermehrt auf.  Das BAG rechnet mit mehr Suiziden.  Eine Umfrage der Universität Basel bei mehr als 11’000 Schweizerinnen und Schweizern vom Dezember ergab bei fast einem Drittel der 14-24-Jährigen schwere depressive Symptome.[8]  Das Suchtpotential nimmt zu.  Internetsucht ist dabei nicht die einzige Sucht.[9]

Die Einrichtungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie stellen seit dem Sommer eine starke Zunahme bei den Notfallanfragen fest.

Lehrerinnen und Lehrer berichten nach dem Fernunterricht von Bildungslücken, die nur schwer zu schliessen seien.  Berufsmessen wurden abgesagt, viele Unternehmen bieten in der Corona-Zeit keine Schnupperlehren mehr an, der Gendertag für Schüler wurde ersatzlos gestrichen.  Für junge Sekundarschüler ist es deshalb noch schwieriger, sich für eine Berufsrichtung entscheiden zu können.  Die Chancen, eine reguläre Stelle zu finden, sind in vielen Branchen aufgrund der unsicheren Wirtschaftslage vermindert.  Wer einen Job hat, muss aufgrund der Rezession mit Lohneinbussen rechnen.

Die jungen Menschen tragen bereits während der Krise eine grosse Last. Von den Staatsschulden der Zukunft, die sie mal zurückzahlen müssen,  ganz zu schweigen.

Dr. med. Barbara Witte schreibt in ihrem offenen Brief[10]Wo bleibt die Solidarität mit unseren Kindern und Jugendlichen? Was tun wir Ihnen mit den Massnahmen an? Unsere Kinder erleben sich und andere als potentielle Ansteckungsquelle – maskiert, «gesichtslos», Mimik schlecht einschätzbar. …  Wir verursachen gerade psychische Krankheiten! Wollen wir das in Kauf nehmen? Haben wir ausreichend stationäre psychiatrische und psychotherapeutische Kapazitäten für den steigenden Bedarf? Die NZZ vom 02.02.2021 erwähnt eine Studie der Covid 19 Task Force des Bundes: Danach stiegen bei den Befragten Symptome einer schweren Depresssion von 3% vor der Pandemie auf 9% im April 2020 und auf 18% im November 2020. Am stärksten betroffen seien die 14 bis 24- jährigen. Empfehlung der Task Force: mehr digitale Psycho – Therapie und Sport. Wie bitte?? Müsste man da nicht auch die Massnahmen diskutieren? Wie viele finanzielle Schulden wollen wir den jüngeren Generationen noch aufbürden? 

Die physische Gesundheit der älteren Generation wird höher gewichtet als die psychische Gesundheit der Jungen.  Dies ist wohl auch Folge der zunehmenden Alterung der Schweizer Gesellschaft.  Wir müssen aufpassen, dass wir nicht zur Gerontokratie verkommen, wo Sicherheit und Gesundheit die höchsten Güter sind und Lebensfreude und Gemeinschaft wenig Gewicht haben.  Es gilt, einen Generationenkonflikt zu vermeiden.

Die Betagten und Vulnerablen müssen geschützt werden, falls sie dies wollen.  Es gibt sicher Möglichkeiten, dies zu tun, ohne den Grossteil der Bevölkerung und insbesondere auch die Kinder und Jugendlichen einzusperren, zu behindern und ihnen alles Schöne im Leben zu nehmen.   Suchen wir nach Lösungen, um den Kindern und Jugendlichen wieder eine lebenswertere und unbeschwertere Kindheit und Jugend zu ermöglichen.

[1] SGP Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrie, Newsletter vom 29.04.2020

[2] Ciao Corona Studie der Universität Zürich, Medienmitteilung 22.10.2020

[3] Jung, still und «lost»: Jugendliche leiden besonders unter der Corona-Krise. Jetzt sind die Erwachsenen gefragt. NZZ 05.01.2021

[4] NZZ 11.02.2021, S. 7

[5] NZZ 29.01.2021, S. 13  «Kindsmisshandlungen nehmen zu»

[6] NZZ 5.01.2021, S. 17 «Jetzt sind die Erwachsenen gefragt»

[7] Mail u. Media/spot on news, 10.02.2021

[8] NZZ 05.01.2021 «Jetzt sind die Erwachsenen gefragt»

[9] NZZ. 11.02.2021. S. 9.  «Suchtpotential nimmt zu»

[10] coronadifferenziert.ch   Offener Brief von Dr. med. Barbara Witte 07.02.2021