Leserbrief von Evelyne Graf Kotán
Seit bald einem Jahr leben wir im Ausnahmezustand. Eingriffe in unsere persönlichen Freiheiten finden statt, die wohl die wenigsten von uns in diesem Ausmass bisher kennen gelernt hatten. Diverse Massnahmen sollen dazu beitragen, das Virusgeschehen einzudämmen oder gar zu kontrollieren und viele müssen dabei erzwungenermassen einen immensen Preis bezahlen (Senioren in Heimen, Gastronomie, Kulturschaffende, Sportbranche, Freizeitangebote etc.).
Als Sozialarbeiterin und Jobcoach habe ich einen etwas anderen Blickwinkel. Ich sehe die Gesundheit der Menschen nicht nur als physiologischer Ablauf in Zell- und Stoffwechselprozessen. Eine Person steht immer auch in einem komplexen Beziehungssystem, zu sich selbst, seinen nächsten Angehörigen, seinen Freunden, dem Arbeitsplatz, Freizeitaktivitäten etc., was sich auch auf die Gesundheit auswirkt. Gerät ein Lebensbereich aus der Balance, „wackeln“ alle anderen Lebensbereiche mit. Es lässt sich nicht voneinander trennen. Dies ist der systemische Ansatz. Will ich als Coach eine Person unterstützen, muss ich auch immer alle anderen Lebensbereiche mit im Blick haben. Häufig liegt die Ursache eines Problems an einem anderen Ort, als dies auf den ersten Blick vermuten lässt. Ist eine Person bereit, einer ganzheitlichen Betrachtung des Lebens zu folgen, zeigen sich oft erstaunliche Ergebnisse.
Gesundheit und Wohlbefinden ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit
Eigentlich wissen wir es. Gesunde Ernährung mit möglichst viel Obst und Gemüse, genügend Bewegung an der frischen Luft, gesunde Beziehungen, Konflikte lösen, sozialer Austausch, Kreativität u. v. m. trägt dazu bei, dass es uns gut geht. Vielleicht ist jetzt die Zeit, uns Gedanken zu machen, was wir selbst dazu beitragen oder ändern können, damit es uns und unseren Mitmenschen gut geht. Nicht weil wir sollten, sondern weil wir wollen.
Immer häufiger begegne ich Menschen, welche Angst haben in der gegenwärtigen Krise. Die einen fürchten sich vor dem Virus, die anderen vor den Auswirkungen der Massnahmen, wiederum andere vor möglicherweise bleibenden direktiven Machtstrukturen in der Politik. Angst ist grundsätzlich ein nützliches menschliches Gefühl, wenn wir einer realen Gefahr gegenüberstehen. Sie hilft uns, schnell und effektiv zu handeln. Schwierig wird es, wenn sich die Angst auf ein in der Zukunft liegendes Ereignis bezieht, das möglicherweise – oder vielleicht auch nicht – eintritt. Niemand von uns kann in der Zukunft leben und somit einer solchen Angst auf der realen Ebene begegnen. Wir können immer nur im Hier und Jetzt leben. Darauf haben wir aber Einfluss! Ich kann mich jetzt entscheiden, mir Gutes zu tun; mit Jemandem einen Spaziergang machen; ein Lächeln schenken; in den Wald gehen; Bärlauch pflücken und eine leckere Bärlauchpesto kreieren; einen Brief schreiben; mir nahestehenden Menschen sagen, wie wichtig sie mir sind; Musik machen; malen; tanzen (geht auch frühmorgens nach dem Aufstehen, habe ich mir sagen lassen 😊); ein inspirierendes Buch lesen etc.. Das „Hier und Jetzt“ kreativ gestalten!
Und wenn mich die Krankheit trotzdem trifft? Dann gilt dasselbe. Nur im Hier und Jetzt kann ich das Notwendige tun, um möglichst wieder gesund zu werden. Dies gilt auch, wenn ich von einem geliebten Menschen Abschied nehmen oder gar selbst gehen muss. Ich kann nicht im Voraus trauern und ich kann dem Abschiedsschmerz auch nicht ausweichen. Gelingt es uns, im Hier und Jetzt zu leben, meistern wir auch äusserst schwierige Lebenssituationen. Sorgen und Angst über die Zukunft, welche wir nicht kontrollieren können, lähmen und wir geraten in einen Tunnelblick. Dies wiederum wirkt sich dann negativ auf die Zukunft aus, vor der wir uns unsinnigerweise fürchten.
Ich möchte mit diesen Zeilen Mut machen, das Beste aus der Situation zu machen, kreativ zu sein und Gutes zu tun. Das erwärmt unser eigenes Herz und die der Menschen um uns herum.